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Die Phänomenologie des Helden

Der Held war mal jemand, der viel machte, bewirkte und gegen alle Widerstände etwas Großes vollbrachte. Heute hingegen gilt der als Held, der viel gelitten hat und im Durchlaufen möglichst vieler Leidensstationen zu einem Opfer der Sonderklasse aufgestiegen ist.

Die derzeitig gültige Aufmerksamkeitsökonomie verknappt Aufmerksamkeit und führt zur Inszenierung der Wichtigkeit von Leiden. Die Alternative heißt: verwandelnde Aneignung oder Abstoßung – der Leidende ist ein beglaubigtes Opfer oder er existiert überhaupt nicht.

Die Menschen kommunizieren also nicht mehr direkt über ihre Wunden, sondern über deren ungebührliche Vorzeigen. Das führt zu einem Wettbewerb, wer wirklich Opfer (Held) ist oder bloß vom Unglück gestreift wurde und sich selbst wieder herstellen muss.

Vorbildlich für die Darstellung des Leidens ist die KZ und Stalag-Literatur um Ludwig Bonhoeffer, Imre Kertesz und Warlam Schalamow: in ihren Texten vollzieht sich nicht die Moral als Bruch mit ihr, so als sei ihr Unrecht ein direktes Walten des Bösen. Stattdessen entwickeln sie jeweils eine Phänomenologie des Stalag-Lebens, in dem alle Elemente und Details zwanglos aufgeblättert werden, so dass der Leser zu einem eigenen Urteil kommt.

Anders ausgedrückt: ihr Vokabular moralisiert nicht, sondern teilt bloß mit, um so vielleicht in der Folge durch den Leser zu einem Urteil gebracht zu werden. Die Wichtigkeit des Geschehens wird nicht durch die Zurhilfenahme der Ethik auszementiert, sondern durch bestechende Details, die scheinbar harmlos sind, unaufdringlich dargestellt.

Diese Arbeitsteilung ist inzwischen aufgehoben: was geschieht, das geschieht der Darstellung nach als Wert, der in actu entwertet wird. Entscheidend ist nicht das, was konkret passiert, sondern das Verbrechen und die Schändung des Wertes selbst, der sich über das konkrete Geschehen verwirklicht. Dieser krude Platonismus führt zur völligen Verhärtung der Herzen; kaum jemand will sich der Alternativlosigkeit von Opfererzählungen aussetzen und ignoriert den Opferwerbejournalismus.

Der Phänomenologe hat es da einfacher: er kann da, wo unter normalen Umständen Verständnis und Rücksicht für Jemanden als Opfer aufbringen zu müssen, durch Rückgang auf den konkreten Vollzug des Leidens eine neue Sicht der Dinge entfalten.

Denn jedes Leiden hat auch einen erstaunlich spezifischen Kalender, eine zeitliche und soziale Ordnung, in der es sich vollzieht. Eine kurze phänomenologische Analyse zeigt: oft leiden selbst Erz-Opfer leiden nach einem zwielichtigen Modus, nicht während der Erwerbsarbeit zu leiden und nur bestimmte Leute für Aufmerksamkeit anzubohren.

Was eigentlich unkontrolliert ins Dasein einbrechen sollte, besitzt dann eine Säuberlichkeit, die verrät: das Opfer, selbst wenn es wirklich eins ist, sucht sich Orte, Zeiten und Menschen aus, wo es glaubt, sich erlauben zu können, zu leiden.

Nicht dass aus phänomenologischer Perspektive damit Leiden bestritten werden soll, doch zeigt es: der Opferstatus hat in der Regel etwas Erkünsteltes und unterliegt dem Zwang zur Positionierung in einer unmenschlichen Aufmerksamkeitsökonomie.

Sebastian Knöpker