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Städte ohne Fluss

Bielefeld und Darmstadt sind Städte ohne Fluss. Sie müssen ohne die authentische Fluidität des Wassers auskommen. Seine Abwesenheit wird dort ein wenig diskutiert, aber nur selten und wenn, dann immer wie mit einem Zittern.

Bielefeld hat eine Entschuldigung für das Fehlen von Flüssen: es liegt auf der Wasserscheide von Ems und Weser. Dort war nie ein Fluss. Anders ist es bei Städten mit erdrückender historischer Beweislast, mit Karten aus dem 19. Jahrhundert, wo noch Fließgewässer eingezeichnet sind.

Erdmannhausen, ein Städtchen in der Nähe von Stuttgart, hat so eine Geschichte, also die Historie vom Wasser, das einmal da war, aber nicht mehr da ist. Auf alten Karten sieht man noch Bachläufe eingezeichnet, wo heute weder Bach, noch Quellen, noch überhaupt das ursprüngliche Tal zu sehen sind. Wo die Quellen waren, wurden Häuser gebaut, wo der Bach lang floss, Straßen. Und wo das Tal sich dem nächstgelegenen Fluss öffnet, wurde es durch einen Bahndamm verfüllt.

Knapp außerhalb der Stadt fließt dann ein richtiger Fluss, die Murr, deren Wasser so braun ist, das man nur tastend und in Frageform davon reden kann. Es handelt sich um einen Abfluss, nicht um einen Fluss. Der Absud ist derart braun, dass man den Fluss doch wohl lieber Braunlauf nennen sollte.

Wer sich an das Ufer der Murr legt und dort einschläft, wird nicht mehr ganz dicht sein: das Abwasser und sein Geruch wird in den Traum eindringen und zum Alptraum werden. Im Traum wird man dann von der Farbe Braun verfolgt, was besonders schwerwiegend ist, da man eine Farbe nicht besiegen, nicht erschießen und auch nicht einsperren kann.

Das Schlimme an diesem Traum ist es dabei, dass sich Flächen über die Farbe Braun ausbreiten, was in der Wirklichkeit unmöglich ist, wo sich nur Farben über Flächen erstrecken können. Umso zwingender ist der Horror, wenn die Farbe es doch schafft und alles mit sich einfärbt. Danach fühlt man sich innerlich verlottert und ganz zerstört.

In Erdmannhausen kann man also die Metaphysik des Traums leben, Schmutzwasser in sich eindringen lassen und dabei ganz auf Jungs Archetypen verzichten. Es geht hier nicht um versteckte Bedeutungen des Abwassers der Seele, sondern rein ums Phänomen.

Das ist auch einige Kilometer flussaufwärts auf der Höhe der Stadt Backnang zu erleben, wo ebenfalls ein Seitental der Murr durchbetoniert worden ist. Hier wurde der Klöpferbach verdolt – unterirdisch in Röhren gefasst – um darüber einen See zu errichten, in dem Klärschlamm (schlicht: Scheiße) gepumpt worden ist.

Dieser See hat sich aber nicht rentiert und wurde trockengelegt. Übrig blieb die Scheißepipeline von der Kläranlage im Tal der Murr hoch in das Seitental des Klöpferbaches. Die Pipeline verläuft oberirdisch, der Bach unterirdisch, die Pipeline verläuft von unten nach oben, der Bach hingegen von oben nach unten. Alles ist zugewuchert und bildet eine in sich geschlossene, ungesunde Landschaft ohne Wasser.

Sebastian Knöpker