Der Chef wundert sich oft, dass er nicht uneingeschränkt der Boss ist. Seine Mitarbeiter behandeln ihn manchmal von unten herab. Da fühlt er sich so wie in einem Restaurant, wo der Kellner die Zeitung des Gastes über die Schulter mitliest. Der Kellner wiederum besitzt die Lizenz zum Herabsehen von unten. Wie er das macht ist eine Frage der Phänomenologie.
Von unten herab zu sehen heißt, die Position des Unterlegenen generell anzuerkennen, aber in ihr den Überlegenen auch als den Unterlegenen zu behandeln. Es handelt sich um die Verschachtelung von zwei Verhältnissen, die wild durcheinanderwohnen, sich aber gar nicht ausschließen. Denn der Kellner erfüllt durchaus die Wünsche des Gastes und lässt gerade darin durchblicken, auf ihn herabzusehen.
Das ist etwas anderes als blanke Arroganz, so wie sie in avantgardistischen Luxusrestaurants oft anzutreffen ist. Die Kellnerschaft fühlt sich uneingeschränkt überlegen, so dass auch der elementare Service zu wünschen übrig lässt. Es handelt sich dabei um ein klassisches Von-oben-herab.
Von unten herab zu sehen ist auch nicht mit dem Ressentiment zu verwechseln. In ihm arbeitet ein unerlöstes Gefühl der Erniedrigung, das zu Abwertung und Affektstau führt. Das Ressentiment lässt nichts mehr gelten, weil die eigene Geltung herabgesetzt ist. Die Unterordnung nagt im Menschen und lässt ihn nicht mehr los.
Das ist anders, wenn Überordnung und Unterordnung eine Einheit im Herabschauen von unten bilden, weil beide fundiert-fundierend wirken. Die Unterlegenheit wird nicht bloß kompensiert, sondern fundiert, so wie auch umgekehrt das Von-unten-herab fundiert wird. Fundament heißt dabei, zu tragen, ohne von etwas anderem getragen zu werden als vom Fundierten, das seinerseits trägt.
Fundieren bedeutet phänomenologisch, das ein Verhältnis alles andere im Leben trägt und ihm Unterlage ist. Die Sorge um den Hund zu Hause kann z.B. so eine fundierende Wirkung entfalten. Indem ich mich um das Tier sorge, fundiere ich mich in meinem Leben – ich finde Halt, ohne dass die Sorge um den Hund selbst noch einmal fundiert werden müsste. Die Versorgung des Haustiers ergibt also einen gelebten Sinn.
Diese Sinnhaftigkeit ergibt sich auch in der Einheit von Unterlegenheit und Überlegenheit von unten, die ein schiefes Verhältnis (Unterlegenheit) fundierend wirken lässt, indem sie das Von-unten-herab einbringt. Das Machtgefälle wird durch offen zur Schau getragene Überlegenheit nicht nur ausgeglichen, sondern erhält tragende Qualitäten.
Deshalb sind auch ungleiche Beziehungen für die Dauerhaftigkeit der Verbindung nicht ungünstig, wenn sie durch das Gleichgewicht „unten/oben“ ausbalanciert werden. Denn sie bringen ein Gefühl von Stabilität hervor, auf dessen Basis die ganzen unlösbaren Konflikte einer Beziehung tragbar werden. Entscheidend ist nicht, was an Konflikten gegeben ist, sondern die Tragfähigkeit ihres Fundaments. Durch das Von-unten-herab in der Unterlegenheit ist das Fundament breit genug für viele unfruchtbare Auseinandersetzungen, die sonst zum Bruch führen würden.
Sebastian Knöpker