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Phänomenologische Lebensberatung: Schuld

Frage an den Phänomenologen: Auf dem Weg zur Arbeit kommt mir jeden Tag um dieselbe Uhrzeit eine Frau mit einem absolut schuldbewussten Gesichtsausdruck entgegen. Einem streifenden Blick hält sie nicht stand; sie schaut sofort zu Boden. Das weckt in mir den äußerst schandbaren Instinkt, sie sofort zu bestrafen. Ist das noch normal?

Antwort: Auf diese Weise kommen sie in Berührung mit den niederträchtigen Anteilen ihrer Seele, was zur seelischen Gesundheit beiträgt, wenn es beim bloß theoretischen Strafvollzug bleibt.

Es gibt Elemente in der Seele, die nicht miteinander in Konflikt stehen, aber doch ab und zu in leichte Auseinandersetzungen verwickelt werden sollten. Denn der kleine Streit führt zu einer Erfrischung und Verlebendigung des psychischen Haushaltes. Es gilt: noch vor der Verdrängung ist die Kontaktlosigkeit innerhalb der Seele das größte Problem, das sich in mangelnder Vitalität des Geistes zeigt.

Sie entdecken in sich beim Anblick der schuldbewussten Frau einen inneren Abgrund in sich. Das ist also gut, wenn sie dadurch mit sich selbst in einen Austausch kommen, der nicht deswegen einen Wert hat, weil er moralisch wäre, sondern weil es zu einer unwahrscheinlichen Begegnung der Seelenanteile kommt.

Doch nehmen wir an, auf dem Weg zur Arbeit begegnet ihnen jeden Tag ein sehr schuldbewusster Hund mit eingeklemmten Schwanz. Hier könnte die Hemmschwelle bei ihnen niedriger liegen und sie verpassen dem Tier einen Tritt.

Was passiert dann als nächstes? Nehmen wir an, sie sehen einen Mitbürger auf der Straße, der gerade einen Döner isst. Drücken sie mit einer lässigen Handbewegung im Vorübergehen den Döner in das Gesicht des Mitmenschen? Wenn ja, so wird darin die Schwelle vom Gesunden zum Pathologischen überschritten.

Denn es geht ja nur um den innerseelischen Kommerz zwischen Seelenaspekten, die einander sonst ignorieren. Von echter Brutalität ist dabei keine Rede. Als Phänomenologe gilt daher: die erste niedere Regung beim Anblick von Frau oder Hund mit viel Schuld im Blick, die zur Unterhaltung innerhalb der Seele führt, ist wertvoll. Alles weitere dagegen mehr als bedenklich.

Sebastian Knöpker