Walter Benjamin führte oft ein verkrochenes Leben in Archiven und Bibliotheken. Ab und zu tauschte er aber auch die Bedeutung der Wörter durch die Bedeutsamkeit der Welt aus. Seine Strategie bestand darin, sich einmal richtig zu verlieben, hoffnungslos und unglücklich, um der Frau dann in fremde und ungastliche Städte zu folgen.
Auf Capri begegnete 1924 Benjamin seiner Flamme Asja Lacis, eine Sowjetbürgerin, für die er unklar gemischte, verworrene und verschleierte Gefühle empfand. Er reiste ihr nach Moskau nach … und traf auf ihren Mann, Bernhard Reich, der schon bald in das Hotelzimmer Benjamins einzog. Asja Lacis war dagegen in einem Sanatorium und ermutigte/entmutigte ihre Männer abwechselnd.
Ab und zu gab es für Benjamin eine Umarmung, einen Kuss eine gemeinsame Stunde ohne Beisein Dritter. Diese quälende ménage à trois in einem verschneiten Moskau war für Benjamin eine Qual, ein unlösbares Problem mit Aufhellungen und Verdunkelungen.
Und was hat es ihm gebracht? Die Frau? Es brachte ihm für den Rest seines Lebens Bedeutsamkeit. Diese Episode lud die Stadt Moskau stark mit Bedeutung auf, mit einem Superplus an Wichtigkeit und Rätselhaftigkeit, die über die buchstabengetreue Bedeutung weit hinaus ging. Moskau wurde ihm zur Stadt der entscheidenden Bedeutung, jedoch nicht seinen Inhalten nach, sondern seiner Intensität gemäß.
Er bezahlte einen hohen Preis für die unglückliche Liebe, doch bekam er dafür echte Bedeutung, also Bedeutsamkeit, die sich über die wörtliche Bedeutung erhob. Seine Strategie bestand dabei darin, an einen an und für sich beliebigen Ort zu fahren, um diesen zur Arena eines verwickelten Problems zu machen. Die Aufenthaltsqualität musste dabei sehr gering sein, um später den Lohn dafür als Potenzierung der Bedeutsamkeit des Leidensortes zu genießen.
Das lässt sich leicht auf andere Reisen übertragen: ich fahre meiner Lieblingsband auf ihrer Tour durch England hinterher, habe kein Geld, keine Eintrittskarten, bin unerwünscht, aber ich schaffe es, mich in die Konzerte zu schmuggeln und Essen vom Buffet zu klauen. Obwohl die Reise unmöglich ist, geht sie immer weiter. Wege öffnen sich, wo keine sein können, und am Ende der Tournee habe ich ein vorzügliches Gefühl der Bedeutsamkeit von den einzelnen Stationen der Tour.
Phänomenologisch gilt also: suche unter Vorwänden fremde Orte auf, die dich mit ihrer Feindseligkeit fast erdrücken, doch immer leben lassen. Dadurch bevölkern sich diese Orte nicht nur mit Bedeutung, sondern mit Bedeutsamkeit, die ein Leben lang vorhält.
Sebastian Knöpker