Wer reich ist, aber von seinem Reichtum lebt, der fühlt sich arm. Grund dafür ist der Schwund: die Eigenschaft, weniger zu werden, ordnet alle anderen Eigenschaften unter und bestimmt sie. Gibt der Reiche eine kleine Summe aus, so scheint es ihm, dass er in Not sei, weil er weniger wird. Der Schwund neigt also zur Herrschsucht.
Das Prinzip der Schwundphänomenologie ist einfach: ein Teil – der Schwund – steht fürs Ganze. Was untergeordneter Aspekt des Ganzen ist, wird zum totalen Kriterium für das Ensemble und richtet es aus. Das Weniger wird also auch dann bestimmend, wenn es im Vergleich zur schwindenden Masse unerheblich ist.
Allgemeiner ausgedrückt gilt, dass eine unerhebliche Eigenschaft den erheblichen Rest bestimmen kann. Wenn so beispielsweise alles gut läuft, aber ein kleines Detail nicht, so wird das Detail gerne dafür genutzt, das Gute mit einem schlechten Vorzeichen zu versehen und ungültig zu machen. Manche haben ein Talent dafür, so wenn ein schöner Urlaub durch den Gedanken an das auf Kipp stehende Schlafzimmerfenster in der heimischen Wohnung Einbrecherangst eingibt. Das Schöne wird auf diese Weise ungültig gestempelt.
Der Schwund spielt in dieser Tendenz eine besonders unheilvolle Rolle. Er setzt sich wie selbstverständlich als das Subjekt, das lauter Prädikate hat. Dieses wild gewordene Subjekt lässt sich beim Bodybuilder beobachten, der einige Wochen mit dem Training aussetzt. Er wird weniger, seine Muskelmasse nimmt ab und wird rapide abgebaut. Dieser körperliche Schwund, der so langsam abläuft, das er direkt nicht empfunden werden kann, wird in der Einbildung dennoch unmittelbar empfunden, also leibhaftig erfahren.
Das Erschlaffen und das Abpumpen der Muskeln setzt sich beim Bodybuilder als vollständiges Subjekt, das sonst auch noch ein paar Eigenschaften hat, die aber nun bloß in Abhängigkeit von der Muskelreduktion empfunden werden. Auch hier ist es dann wieder so, dass ein körperlich reicher Mensch sich ehrlich und aufrichtig arm fühlt, weil er weniger wird und seien es auch nur seine Muskeln.
Aus menschlicher Sicht gilt nicht die göttliche Gleichung Ich bin, der ich bin. Vielmehr ist der Mensch aus seiner Perspektive derjenige, der eine bestimmte Eigenschaft an sich sieht, die, seien ihre Eigenmittel auch noch so beschränkt, den Wert und die Wirklichkeit des Restes bestimmt. Der Mensch ist der Selbstwahrnehmung nach oft der, der weniger wird.
Sebastian Knöpker