Ein Gott kann zum Halbgott, zum Dämon und schließlich zum Daimon als innerer Stimme im Menschen absteigen. Ebenso kann ein Mythos langsam verfliegen, was im Fußball gut sichtbar ist. Der VfR Mannheim hat so seinen Mythos verloren, Viktoria Aschaffenburg kann ihn gerade noch halten und Wormatia Worms – besitzen die Wormaten noch ihren Mythos?
Sehr alte und sehr berühmte Philosophen werden zu ihrem eigenen eigenen Mythos. Jürgen Habermas ist so ein Mensch-Mythos: wo er spricht, da wird nicht in erster Linie der lebendige Habermas erlebt, sondern der Mythos Habermas. Der Mensch Habermas wurde zum Mythos und als Mythos zu einer Sehenswürdigkeit.
So ist es auch mit altehrwürdigen Fußballvereinen. Das Verfallsdatum früherer Erfolge spielt hier lange Zeit keine Rolle, da gerade das mit weitem Abstand Zurückliegende die Mythosbildung unterstützt. Doch auch ein Mythos hat ein maximales Haltbarkeitsdatum, sodass Vereine wie Wormatia Worms vom Verwehen des Mythos bedroht sind. Also muss man ab und zu nachschauen, ob der Mythos noch da ist. Beim Flutlichtspiel Arminia Ludwigshafen gegen Wormatia im riesigen Südweststadion vor einigen Tagen (27. Oktober) schaute ich nach.
Einer der Wormaten hatte sich als Skinhead verkleidet, inklusive Bomberjacke aus den Achtzigern. Aufgrund der Quadratur seines Schädels hätte er eine Liebeserklärung der Sorte „J’aime le cadre de ta gueule“ verdient gehabt. Doch begann es herbstlich zu regnen und stattdessen erhielt er Mitleid. Der Kanisterkopf konnte aus naheliegenden Gründen keine Mütze aufsetzen, doch kam auch kein Regenschirm in Frage, so dass er schnell einnässte. Das Regenwasser wurde von seinem Kopf eingefangen und floss dann inwendig an ihm ab / in ihn hinein.
Im Gästeblock der Wormaten standen natürlich nur gutbürgerliche Fans, etwa 150, ausgestattet mit einer Blockfahne und auf einem winzigen Fleck im 40.000 Zuschauer fassenden Stadion kondensiert. Der Support bestand aus gut abgehangenen Liedern, so von der Art „WE ARE THE BOYS IN RED! Ohhhooo! Ohhhooo! We are the boys in red! Ohhhooo! Ohhhooo!“ oder Brüller wie „Ihr seid Scheiße wie eure Wurst“. Da kein Vorsänger da war, entschied sich von Zeit zu Zeit einer der Anwesenden einen Gesang anzustimmen und die Anderen fielen dann ein.
Statt langweiligem Dauersupport setzte so immer wieder von neuem akustische Berauschtheit ein: zwei Fans unterhalten sich miteinander, sie wissen sich nichts mehr zu erzählen, da fängt der eine mit ganz leiser Stimme an zu singen „Wir sin laud aba fair wir singe alles platt sin mer do …“, der Kumpel steigt ein, die Umstehenden singen mit, der ganze Block singt mit.
Im Anstimmen sind die Wormaten also Weltklasse, weil jeder einmal anfangen kann und die Anderen dann mitmachen, ohne irgendeinen Anlauf nehmen zu müssen. Sagt der eine Fan zum Anderen: „Du ich glaub, ich muss mal Kleingeld zählen“ zählt nach, fängt dann mit seinem Gesang an und die Anderen machen mit.
Das phänomenologische Gesamturteil lautet somit: die Wormatia aus Worms ist beseelt, hat noch ihren Mythos, bringt ihn bei jedem Spiel wieder zustande
Sebastian Knöpker