Menü Schließen

Im türkischen Supermarkt (VI)

Ein Türke will den anderen führen, lenken, sein Leben verbessern und bestimmen. Souveräne Entscheidungen des Einzelnen werden damit schwierig, was sich auch beim Einkaufen zeigt. Die türkische Sucht nach dem Regieerfolg („Ich weiß es ein bisschen besser als du.“) macht so auf jeden Fall den Einkaufszettel überflüssig.

Das können nur echte Anführer: vom Tisch als erster aufstehen und damit das Signal für den Aufbruch geben. Die Anderen folgen dann, werden so zu Frequenzfolgern und bestätigen damit den finalen Arbiter. Dieser steht eben nicht nur auf, sondern gibt in seiner schlichten Handlung die Richtung vor.

Die türkische Gesellschaft ist eine Frequenzmonarchie: im sozialen Kommerz geht es immer darum, wer die Frequenz vorgibt und wer ihr folgt. Zwar kann es am Ende nur einen Frequenzmonarchen geben, aber die Folger fühlen sich immer auch als Frequenzanwärter, als Leute, die bald selbst die Spur prägen.

Im türkischen Supermarkt wird diese soziale Metaphysik konkret erfahrbar: hier braucht keiner einen Einkaufszettel, weil er schon genug Einkaufstipps von links und rechts bekommt. Letztlich wird dann das gekauft, was Andere wollen.

Wenn ein Türke ein Kilo Granatäpfel kaufen will, dann findet sich schnell ein Souffleur, der von drei Kilos spricht. Gekauft wird dann Granatapfelkonzentrat plus einem Liter Pekmez und alle sind zufrieden.

Das Regieführen bei kleinen Kindern besteht darin, dass ein Kind den Anderen etwas vormacht, sodass es diese nachmachen. Die Spielgefährten regieren, als müsste es so sein und der Regisseur ist zufrieden.

Übertragen auf die Politik hat das allerdings ernsthaft ungünstige Nebenwirkungen. Die Leidenschaft vieler Türken, über Politik zu reden, macht sie nämlich zu Frequenzanwärtern. Es handelt sich dabei um Menschen, die nichts zu sagen haben, aber im Sprechen über Politik zu einer Verlautbarung kommen. Diese Verlautbarung gibt ihnen ein Zipfelchen Geschmack daran, selbst Frequenzmonarch zu sein.

Zu einem Publikum zu sprechen, befriedigt bei vielen die Sucht nach dem Regieerfolg. Sprachhandlungen bieten den Trostpreis, sich als Frequenzanwärter zu fühlen – selbst bei einem Zufallspublikum. Die feierlich-ernsthaft-passionierte Rede über die politische Lage hat bei vielen Türken den Effekt, sich als Nachfolger der letzten Etappe doch auch als Regisseur zu fühlen.

Das türkische Selbstgefühl hebt sich durch den Regieerfolg im Supermarkt wie beim bedeutungschweren Reden über Politik. Im ersten Fall wird tatsächlich etwas bewegt, im zweiten Fall wird nur leer geredet, wobei allerdings der Redner selbst bewegt wird. D.h. er fühlt sich nicht mehr als Rädchen, sondern als Frequenzspurer.

Sebastian Knöpker