Old Shatterhand und Old Firehand durchritten den wilden Westen als Raum, in dem mal das Recht des Stärkeren, mal das Recht der USA und mal das Recht der Apachen galt. Die verschiedenen Rechtsräume waren dabei gelebte und erlebte Räume, deren Phänomenologie Karl May ausgearbeitet hat.
Ein Rechtsraum ist so abstrakt wie konkret. Abstrakt sind die Normen, die ihn zugrunde liegen, konkret das Raumempfinden. In einem rechtsfreien Raum kann man sich durch Zugriff Dinge aneignen, die in einem Rechtsraum durch die Geltung der Gesetze der freien Verfügung weit entrückt sind. Die Identität des einzelnen Gegenstandes ist also davon abhängig, welcher Rechtsraum gilt, also am Ende von den Menschen in seiner Geltung unmittelbar empfunden wird.
Karl May schildert so den Identitätswechsel einer Kirche im Kalifornien des Jahres 1823: nachdem die katholischen Missionare die Herrschaft über Kalifornien verloren hatten. Gerade haben die Priester noch für „Recht und Ordnung“ gesorgt, schon sind sie entthront und ein rechtsfreier Raum entsteht.
Das kirchliche Anwesen, vor Kurzem noch respektvoll als Eigentum wahrgenommen, wird nun ganz anders gesehen, und zwar als das Anzueignende. Solange es besessen worden ist und als Besitz vom Rechtsraum abgesichert war, gehörte es der Kirche. Jetzt aber ist es durch den rechtlosen Raum das zu Besitzende.
Also wird das Ensemble schnell okkupiert: von einem Franzosen, der in einem Flügel des Anwesens eine Brauerei einrichtet, von einem Amerikaner, der das Kirchenschiff zum Tanzsalon umwidmet und von einem Iren, der an die Außenmauern der Kirche eine Branntweinkneipe mauert, wie Karl May schreibt. Der Ire kam also etwas zu spät und konnte sich nicht mehr den Innenraum der Kirche aneignen, wohl aber die Außenmauer, an die er seine Kaschemme anlehnen konnte, so dass auch er zum Zug kam (vgl. Karl May, Old Surehand II, Kapitel I).
Karl Mays Westerngeschichten sind natürlich frei erfunden, phänomenologisch aber stimmig. Seine Phantasie traf den Wesenskern wechselnder Rechtsräume als Faktor für die Bestimmung gegenständlicher Identität. Er klärte erzählerisch den Unterschied zwischen Vorhandenheit und Zuhandenheit. Vor die Wahl gestellt, ob ich Heideggers Sein und Zeit lesen will, um zu erfahren, was Zuhandenheit ist, oder Karl May, wähle ich natürlich May.
Denn er dekliniert den Unterschied zwischen Vorhandenheit und Zuhandenheit quantitativ und qualitativ auf hohem Niveau. Kein Ding ist einfach so da, gilt nach May, sondern wird erst durch den Verweisungszusammenhang hervorgebracht. Wechselt dieser Zusammenhang, wechselt auch die Gegenstandsauffassung, lautet die simple Botschaft von Old Surehand und Old Shatterhand.
Sebastian Knöpker