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Phänomenologie vor Ort: im türkischen Supermarkt

Ich arbeite in einem Industriegebiet in der hessischen Chemiesteppe. Die zerstörten Gedanken der Stadtplaner haben dort selbst die Himmelsrichtungen begrenzt, da nach Norden und Westen nichts geht: ein Autobahnkreuz versperrt den Weg. So bleibt nur ein türkischer Supermarkt, um dem Unglimpf zu entkommen.

Türken haben die Eigenart, historische Ereignisse in die Zeitlosigkeit zu überführen. Im Supermarkt zeigt sich das an den vielen fehlenden Preisschildern. Man weiß nie, was wie viel kostet und das hat mit einer Entscheidung des Präsidenten Özal im Jahr 1983 zu tun, Einzelhändler vom Zwang zur Auszeichnung ihrer Ware zu befreien. Indessen: Ware, die ohne Preis herumliegt, ist nur Dekoration.

Ich gehe weiter in den Markt hinein und dann kommt etwas Schönes: ein Verkostungsstand mit türkischer Rosenmarmelade, von dem ich mir einen Happen nehme. Ja, das schmeckt im Abgang nach einem ein halbes Jahr nicht mehr geöffneten Supermarkt, dessen überlagerte Lebensmittel einen charakteristischen Geruch absondern. So ergibt sich eine Totalfusion aller Einzelgerüche der Artikel im Sortiment.

Das aktiviert meine Erinnerungen an türkische Supermärkte, die zu Beginn der neuen Saison aus dem Winterschlaf geholt werden, sobald die Touristen wieder anrücken, und sehr nach Gesamtsortiment riechen. Die von mir probierte Marmelade ist genau danach und damit also Werbung für den Supermarkt. Sie entält alles, was es im Laden gibt; bis runter zu Waschmittel und Klopapier.

Im Laden laufen erstaunlich viele Angestellte herum und entfalten eine insektenhafte Aktivität. Das ist so, wie man es aus der Türkei kennt, wo der einzelne Mitarbeiter nicht viel kostet, so dass es nicht schadet, gleich ein paar mehr Leute einzustellen. Während bei Aldi zielgerichtet abgeschachtelt wird, arbeiten die Angestellten hier verschachtelt und repräsentieren Geschäftigkeit. Auf diese Weise praktizieren sie das türkische Leistungsevangelium.

Nun scheitern italienische Supermärkte in Deutschland oft daran, die Verkaufsfläche zu füllen, weil sie nicht genug Artikel haben. Bei ihnen bleibt ein Teil des Ladens einfach leer. Hier ist das anders, weil mit überschneidenden Kategorien gearbeitet wird: dieselben Artikel sind an fünf bis zehn Standorten präsent, so dass keine Lücken auftreten. Wo eigentlich eine Lücke sein müsste, werden mit Vorliebe turşu in großen Plastikbehältern angeboten, mixed pickles. Es handelt sich also um stets dasselbe, nur dass die Produktnachbarschaft eine andere ist.

In der Türkei wird diese Redundanz noch übertroffen, indem neben einem Supermarkt oft noch ein Supermarkt ist, der dasselbe Sortiment bereithält, so dass dasselbe gleich mehrfach am selben Ort ist. Die Türken mögen Gleichlautigkeit als Wiederholung des sich Wiederholenden.

Und die phänomenologische Summe des türkischen Supermarktes? Der phänomenologische Blick braucht kein Ereignis, keinen Inhalt besonderer Art, um doch zu seiner phänomenalen Ernte zu kommen. Er erlebt dann doch etwas, wo es eigentlich nichts zu erleben gibt. Das ist die Alchemie der Phänomenologie.

Sebastian Knöpker