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Negation in der Phänomenologie

Die Vorsilbe „Un-“ setzt einen Überschwang an Verneinung frei. Der Unwille und das Unwirsche erhält erst durch das Präfix das charakteristische Superplus des Neinsagens. Das „Un-“ ist die Luxusversion der Verneinung.

Wer todmüde ein Bier trinkt und sich kraftlos am Glas festhält, so dass am Ende dessen Inhalt in den Ärmel fließt, wird nicht nur von Innen her nass, er fühlt das Un- des Unheils auch leiblich. Das Bier im Ärmel bringt ein schwer lokalisierbares, da im ganzen Leib fein verteiltes Unbehagen zustande, dass nur durch ein Wort mit Un- richtig auf den Begriff gebracht werden kann.

Unwörter, also Begriffe, die mit Un- ausgestattet sind, geben die globale und leibliche Unzufriedenheit mit etwas kongenial wieder. Sie bezeichnen nicht bloß ein Negatives, sondern die Selbststeigerung des Nein als Überzeichnung. Während Nein und Nicht begrifflich kaum Kraft haben, so hat das Unwirsche des Un- eine intensiven Überschwang an sich.

Das Morphem Un- kann im Deutschen nicht alleine gebraucht werden. Phänomenologisch hingegen ist es ungebunden. Die Laune kann zum Beispiel ein reines Un sein, d.h., leiblich und räumlich einen Unwillen zum Ausdruck bringen, der nicht weiß, was er nicht will, sondern einfach nicht will.

In einer Sammelunterkunft für Asylantragssteller, in der viele unterschiedliche Nationen und Völker eng auf einem Haufen sind, bildet sich leicht ein solches Un. Die Menschen leben dann in einer Atmosphäre des allgemeinen Unwillens. Bevor konkret etwas stört, stört das Un schon: alles ist unwillkommen und ungewollt.

Die Erstaufnahmestelle ist also der genius loci für das Morphem Un. Die Xenophobie kann kaum größer als dort sein. Das Wort „xenophob“ kann dabei nicht die affektive Überreizung der Atmosphäre wiedergeben, weil es als Fremdwort leiblich kein Unwohlsein hervorruft. Das Unliebsame braucht einfach das Un, um sich richtig geltend zu machen.

Das Deutsche ist also phänomenologisch betrachtet eine Luxussprache, was die Verneinung angeht. Luxus meint hier eine Präsenz als Fülle, die sich in sich noch einmal steigert und damit eine Überfülle hervorbringt. Die Phänomenalität des Un ist also nicht eine bloße Präsenz, sondern in dieser noch einmal eine gesteigerte Anwesenheit als Störgefühl.

Sebastian Knöpker