Menü Schließen

Phänomenologie der Gravitation

Der Mensch macht es sich unnötig schwer: sieht er aus der Ferne etwas Schweres, spürt er gleich dessen Gewicht. Er wartet nicht auf die direkte Berührung, sondern fühlt im Voraus das Schwere. Massewirkung und Gravitation sind also nicht Eigenschaften der Dinge, sondern beruhen auf eigenleiblicher Wahrnehmung.

Wir sehen es den Dingen aus der Distanz an, wie schwer oder wie leicht sie sind. Es wäre auch zu umständlich, alles erst anzuheben, um unmittelbar Tara, Brutto und Netto zu ermitteln.

Damit diese Abkürzung funktioniert, investiert der Mensch frühere Erfahrungen in die aktuelle Anschauung über seinen Leib. Die Schwere wird letztlich durch den eigenen Leib spürbar, der eine Schwereempfindung hervorbringt, die dem Gegenstand untergeschoben wird. So scheint es, als sei die Sache selbst unmittelbar schwer oder leicht.

Auch bei Tönen gibt es diese Schwerewirkung: in der Klangfolge g-h-d-f wird das „f“ als abwärts drängend empfunden, als schwer. Klänge erzeugen also beim Hörer eine Gravitation. Sie bilden Schwere und Einheit, sodass Dreiklänge eben nicht drei Klänge bleiben, sondern in ihrer gegenseitigen Anziehung ihr eigenes Zentrum der Anziehung bestimmen.

Auch beim Hören verleiht der Leib des Hörers den Klängen eine Schwere, die sie von sich aus nicht besitzen. Die Tendenz nach unten, nach vorne und nach oben sind nicht Eigenschaften der Schallereignisse in der Welt, sondern stammen vom Lieferanten aus dem Keller, dem Leib.

Auch beim Schmecken gibt es Gravitation. Diese bringt nicht das Empfinden von Schwere auf, sondern besteht in Anziehungskraft. Bei Mixed Pickles besteht der Geschmack wesentlich darin, dass das eingelegte Gemüse mit verschiedenen Schärfegraden und sauren Potenzen fermentiert wird, die einander anziehen und abstoßen.

Mixed Pickles auf Basis von Kurkuma bestehen nicht aus einem Geschmacksbild, was der Sache nach geschmeckt wird. Die einzelnen Aromen kommen vielmehr so zusammen, dass sie einander anziehen. Das Geschmacksbild von Kartoffelpüree kennt dagegen kaum gravitationale Effekte.

Gravitation bei den Mixed Pickles bedeutet, dass die einzelnen Geschmackseindrücke sich von sich aus auf sich beziehen. Sie wollen einander, sie stoßen einander ab. Der Esser selbst als wollendes Subjekt kann wohl Lust auf die Pickles haben, aber die Lust an ihnen kommt erst so zustande, dass sie ein begehrendes Eigenleben entfalten.

Das findet sich bereits beim Dreiklang, wo drei Töne zusammen finden wollen und nicht vom Hörer gewollt oder zu einer Einheit geschmiedet werden. Nicht „ich will“ gilt, sondern „es will“, d.h. ein Dreiklang und die einzelnen Töne in ihm wollen sich, streben nach unten und wollen eine Oktave tiefer fortgesetzt werden.

Gravitation heißt beim Hören und Schmecken also, dass das Wahrgenommene selbsttätig möchte und eine eigenständige Willensform bilden, die eine Schwerewirkung beinhalten kann, aber nicht muss.

Sebastian Knöpker