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Phänomenologische Lebensberatung: ungeöffnete Post

Frage an den Phänomenologen: Mein Sohn, 25, macht seine Post nicht auf und ignoriert sie einfach. Ich muss einmal in der Woche zu ihm fahren und seine Post erledigen. Letzte Woche war ein Brief von mir dabei; es ging um Geld, das er mir schuldet. Was läuft hier verkehrt?

Ihr Sohn hat Teile seiner Existenz an sie weitergereicht und sie kümmern sich darum. Er wird ihnen keineswegs dankbar sein, weil er wie sie selbst davon ausgeht, dass sie für sein Briefwesen verantwortlich sind. Es liegt also ein institutionalisierter Transfer von Verantwortung vor. Übrigens: haben sie ihren Brief an den Sohn dann noch beantwortet?

Die Frage hat auch eine politische Dimension, weil genau das der Staat manchmal in der Betreuung von Migranten macht. Kommt nämlich ein Einwanderer nach Deutschland aus einem Land, wo das Postwesen unorganisiert ist, also nie Post kommt, so wird er die Tendenz haben, auch in seinem neuen Land den Posteingang ignorieren. Einige wenige werden dabei kategorische Postverweigerer sein.

Bei diesen reagiert der Staat so darauf, indem er einen Sozialarbeiter die Post des Neubürgers sichten lässt. Dieser wird dann die Briefe vom Staat formulieren, beantworten und unterschreiben lassen. Dabei liegt keine Personalunion im strengen Sinn vor, aber es bleibt, dass die staatlichen Stellen die Briefe, die sie versenden, auch selbst gleich beantworten.

Darin liegt eine absurde Ausweitung des Politikfeldes vor, die sie daran erinnern könnte, dass es in ihrem Verhältnis zum Sohn ähnlich aussieht. Die Argumentation der Postverweigerers ist dabei stets dieselbe: warum soll ich denn Post beantworten, wenn derjenige, der sie mir schreibt, das schon macht?

Ihr Sohn ist aber kein Härtefall, sondern ein harter Fall der Postverweigerung, der nur durch maximierten Leidensdruck dazu bewegt werden kann, sein Verhalten zu ändern. Anders ausgedrückt: machen sie einfach nichts mehr; das ist vollkommen ausreichend.

Sebastian Knöpker