In der Philosophie werden Begriffe oft durch ihre Geschichte erklärt. Von der Sache her wenig ergiebig, kommt es dabei oft zu dem Wissensgefühl, die Dinge verstanden zu haben. In der Quellenversumpfung liegt also ein besonderes Potenzial, durch die Genealogie ein trügerisches Wissensgefühl zu erzeugen.
In der Psychotherapie hat der Rückgang auf die eigene Vergangenheit den Effekt, ein „Das-bin-ich“-Gefühl zu erschaffen. Obwohl der Ursprung beliebig gesetzt wird und der Weg in die Vergangenheit insgesamt nur vage skizziert wird, stiftet die Selbsterzählung ein solides Identitätsgefühl.
Die Reise vom Beginn zur Gegenwart versumpft also die Quelle auf die Weise, dass sie und die zurückgelegte Strecke in der eigenen Biographie Halt und sicheren Stand bieten. Versumpfung bedeutet hier entsprechend eine fundierende Wirkung, so dass der Mensch auf sich selbst stehen kann.
Klassisch geschieht das bei der Opferidentität, wo ausgehend von der Urstiftung des Schadens beim Opfer über einige Zwischenstationen die gegenwärtige Lage rekonstruiert wird. Die erzählte Strecke als Gang des Lebens kann dabei noch so lückenhaft und anfechtbar sein – entscheidend ist die Erzählung als Vorgang selbst, nicht das Erzählte.
Eine Opferidentität besteht auch darin, sich selbst die Summe seines Schadens und Schmerzen zu werden, indem man sich immer wieder ausgehend von der Quelle des Übels erzählt (& erzählt wird) und sich so seine Lage in der Gegenwart erklärt. Ausschlaggebend ist dabei die Identifizierung mit sich, nicht die Identität der Sache nach.
Denselben Effekt zeigt auch die Begriffsdefinition in der Philosophiegeschichte: der Begriff des Symbols z.B. wird hier über die Quelle der Vorsokratiker, über Platon über Plotin, Aquin, Kant, Cassirer und Freud irgendwann mutwillig zu einem Abschluss gebracht. Obwohl die Erklärungsleistung gering bleibt, wirkt das auf viele so, dass hier ein sicherer Stand im Wissen vorliegt. Das Wissen wird dann gefühlt statt gewusst.
Ein Wissensgefühl auf Basis einer genealogischen Ausbreitung von vielen geschichtlichen Daten beruht auf der Phänomenologie der Kausalität und dem Im-Griff-Behalten. Beides bezieht sich dabei im Kern nicht auf die inhaltliche und logische Seite der Wissensvermittlung, sondern auf die Noesis, auf den Vorgang des Denkens und Erzählens. Die Quellenversumpfung beruht also auf dem Versumpfen als Aktserie selbst.
Nicht im Erzählen zu versinken, sondern sich zu fundieren, ist alltägliche Kost. Denn die Selbsterzählung als Versicherung und Selbststärkung geschieht unablässig, wenn viele Menschen dabei auch Genealogien des Scheiterns eindeutig bevorzugen. Das erzählerische Brennmaterial muss aber keineswegs in Niederlagen und erlittenen Ungerechtigkeiten bestehen, da es ja auf den Inhalt nicht so sehr ankommt.
Sebastian Knöpker