Ein dickes und verfettetes Ehepaar bucht ein Flug und sucht sich in einer Dreiersitzreihe die beiden äußeren Sitze aus. Die Armlehnen bleiben später dann hochgeklappt und so hat man einen Sitzplatz mehr. Und der Mensch in der Mitte? Er erleidet strukturelle Gewalt.
Strukturelle Gewalt ist ein Ausdruck für Gewaltausübung ohne Absicht und Plan einer einzelnen Person, dafür aber mit einer Zielsetzung von der unpersönlichen und damit überpersönlichen Struktur. Es ist damit nicht entscheidend, wer was macht, weil er nur Träger und Ausdruck der Struktur ist.
Das dicke Ehepaar mit den Fettpolstern ist damit unschuldig. Schuldig hingegen der objektive Geist der Cleverness, der es nun einmal will, dass man auf Kosten anderer ein Vorteil verwirklicht. Die Verfressenen könnten natürlich auch einen Platz mehr buchen, aber was hat man von ihnen anderes zu erwarten als rücksichtslose Ersparnis von Aufwand und Kosten?
Natürlich führt diese Sichtweise in eine Sackgasse. Denn durch das Entmoralisieren und Entpersonalisieren der Dicken werden sie noch ungnädiger von ihren Mitmenschen beurteilt. Der Status als Person ist nicht mehr gegeben, wenn es der allgemeine Zeitgeist der Cleverness ist, der die asozialen Elemente antreibt. Ist das so, ist auch jede Rücksicht jederzeit unnötig, weil man es eben mit einem unpersönlichen Prinzip zu tun hat, das keinen Wert aufweisen kann.
Strukturelle Gewalt als Entschuldigung für das Fehlverhalten des Individuums oder der Gruppe taugt also nicht so recht. Aber sie erlaubt es, den Menschen, der öffentlichen Raum für sich privatisiert, phänomenal zu erfassen. Denn der entschuldigt sich vor sich selbst, dass man das eben so macht. Da er in sich eine allgemeine Verfahrensweise als zur Zeit gültiges Prinzip trägt, die in ihm wirksam wird, hat er weiter mit der von ihm angeregten Enge nichts zu tun. Das beschreibt kurz und bündig die Haltung vieler Menschen, die in ihrem geglückten Unglimpf doch nur einer anonymen Struktur folgen.
Sebastian Knöpker