Zwingelhausen, ein kleines Dorf in Schwaben, entkommt der Bezeichnung Loch nur knapp. Grund dafür ist der Steinbruch nebenan, zwanzigmal größer als das Dorf selbst. Ein Dorf mit Loch? Ein Loch mit Dorf.
In Zwingelhausen wird in großem Maßstab Muschelkalk abgebaut und in einem Pochwerk zermahlen. Der dabei produzierte Staub rieselt auf das Dorf herab, etwa so, wie ab und zu Saharastaub auf Deutschland niedergeht. Kommt nun der Zwingelhäuser nach Hause, muss er erst einmal umständlich durch eine Staubwolke steigen, um ins Haus zu gelangen, wohin der Staub es natürlich auch schon geschafft hat.
Durch den Tagebau fehlt natürlich ein großes Stück Landschaft, nicht aber der dazu gehörige Raum. Denn jeder LKW, der mit rappelnder Heckklappe durch die Schlaglöcher im Bruch fährt, lässt den Zwingelhäusern ein gefühltes Stück Raum aufgehen.
Wie bei einem leisen Güterzug in der Nacht, der weit entfernt dahinrollt, gar nicht das Geräusch und seine Lautstärke entscheidend ist, sondern der Raum, der dadurch fühlbar gemacht wird, so wird auch der Steinbruch in seiner plastischen Räumlichkeit durch Geräusche spürbar wirklich. Man hört woher der Ton kommt – aus einem gewaltigen Loch – und so wird das ganze Loch leibhaft gespürt.
Unangenehm ist das bei den Sprengungen im Steinbruch, angenehm in der Nacht, wenn kleine Brocken und Stückchen die Abhänge herabkullern. Das Minimum dieser Geräusche lässt die Ausdehnung des Steinbruchs fühlen und natürlich auch die Nacht selbst. Der Hohlraum wird so zum Tonraum und in diesem können sich unzählbare Tonfiguren abspielen.
Im Kleinen findet sich das bei einer Hornisse, die mit ihrem bösen Brummen ihre Flugbahn räumlich plastisch zur Empfindung bringt. Der erratische Kurs der Hornisse wird dann nicht nur gehört, sondern auch räumlich empfunden. Wäre kein Insekt mit seinem Flügelschlag hörbar, wäre der Raum kaum präsent.
Oft sind im Steinbruch metallische Geräusche zu hören, das Knirschen von Stahl, der mit viel Wucht über den steinernen Untergrund gezogen wird. Diese Töne bringen dabei nicht nur einen Raumeindruck hervor; sie lassen auch den harten Stahl unmittelbar spüren. Die Konsistenz des Materials, das über die Steine geschleift wird, lässt sich dann am eigenen Leib als stahlhart empfinden.
Der Steinbruchbetrieb lässt die Einheimischen aus Zwingelhausen nicht los, sondern wird zu einem Teil ihres Privatlebens. Der Staub ist dabei nur ein Problem, kommt durch die kleinste Ritze, ist überall, wird aber nicht zu einem Teil des eigenen Selbst. Doch die Geräusche, ihre Raumwerte und das darin unmittelbar gespürte Material (Stahl, Steine im Mahlwerk) dringen in die Privatsphäre der Zwingelhäuser ein und verschaffen ihnen eine praktische Phänomenologie des gelebten Raums.
Sebastian Knöpker